Literatur 4

Bücher für ein ganzes Leben

Wir durchleben eine Krise, alle von uns auf eine andere Art und Weise, aber wir sitzen in einem Boot. Jetzt ist die Zeit, um Lieblingsbücher zu empfehlen. Nicht nur, weil wir alle mehr Zuhause sind, sondern auch weil Bücher ablenken, Wissen vermitteln, einen Wechsel der Perspektive ermöglichen und unsere Persönlichkeit prägen. Ich lese seit meiner Jugend sehr viel und habe auf dieser Reise Bücher entdeckt, die ich fest in mein Herz geschlossen habe. Lieblingsbücher zu empfehlen ist für mich etwas sehr persönliches, weil sie für mich fast so etwas wie eigene kleine Schätze sind, mit denen ich Emotionen und Erinnerungen verbinde. In dieser Krise will ich aber persönlich sein, persönlicher denn je, denn die zwischenmenschliche Unterstützung steht im Fokus.
Die Bücher, die ich lese sind meistens von gesellschaftlichen Betrachtungen und Analyse geprägt, rücken soziologische Betrachtungen in einen literarischen Kontext und sind vielleicht etwas schwermütig und voll von Weltschmerz, trösten aber auch und haben mich darin geschult Zusammenhänge unserer westlichen Welt besser zu verstehen. Einige Bücher habe ich bereits in der Vergangenheit auf meinem Blog vorgestellt, aber an dieser Stelle will ich das noch mal gebündelt tun.

Wer die Nachtigall stört
Von Harper Lee

Harper Lee hat mit „Wer die Nachtigall stört“ ein Buch geschrieben, das mich tief bewegt hat. Thematisch dreht sich das Buch um den Rassismus in den Südstaaten Amerikas und spielt in den 40er-Jahren. Erzählt wird die Geschichte durch Scout und ihren alleinerziehenden Vater Atticus Finch, der als Anwalt und Abgeordneter für die Gleichberechtigung aller Menschen kämpft und sein Wissen über Loyalität, Stärke und Widerstand an seine Kinder vermittelt. Nicht nur sie, sondern alle Leser des Buches, lernen durch seine weisen Worte. Immer wieder taucht in diesem Roman die Frage um das eigene Gewissen auf. Was ist unser Gewissen? Wie bilden wir es und warum ist es so wichtig ein Gewissen zu haben? Diese Fragen werden durch die Geschichte, die 1960 erschienen ist, beantwortet. Harper Lee hat mit ihrem Debütroman nicht nur eine wunderschöne und herzerwärmende Geschichte über eine Vater-Tochter-Beziehung und den Kampf gegen Rassismus in Amerika geschrieben, sondern auch ein bedeutendes Werk über unsere gesellschaftliche Verantwortung. Weiter geht die Geschichte in der Fortsetzung „Gehe hin, stelle einen Wächter“, in der Scout kein kleines Mädchen mehr ist, sondern eine erwachsene Frau. Als Frau formt sie ihr eigenes Gewissen, das von Harper Lee als unser Wächter beschrieben wird.

Im Frühling 
Von Karl Ove Knausgård 

Über die Jahreszeitenbände von Karl Ove Knausgård habe ich vor einigen Monaten bereits einen vollständigen Artikel geschrieben, der sich auf die Entstehung dieser literarischen Reihe konzentriert hat. Obwohl alle Bände empfehlenswert sind, weil sie alle die Vielfalt und Schönheit unserer Natur aufgreifen, finde ich „Im Frühling“ jetzt die wichtigste Empfehlung. Obwohl das Buch in der Reihenfolge der Bücher die Nummer drei darstellt, kann man getrost mit diesem Buch beginnen. Der Schriftsteller, der durch den Romanzyklus „Mein Kampf“ weltberühmt geworden ist, hat mit seinen Jahreszeitenbänden eine Liebeserklärung an die sinnlich erfahrbare Welt geschrieben. Weil wir diesen Frühling 2020 nicht selber in vollen Zügen genießen können, finde ich es eine schöne Idee den Frühling durch die Sprache von Karl Ove Knausgård zu erleben, denn er schafft es wie kaum ein anderer Schriftsteller die Realität ehrlich und wahr zu beschreiben. Der Alltag, die Natur wird zu einem literarischen Erlebnis. Wir sehen die Welt erblühen, wenn wir „Im Frühling“ lesen.

Die Tochter des Bildhauers 
Von Tove Jansson

Nicht nur Literatur ist während dieser globalen Krise wichtig, sondern auch Kunst in Form von Gemälden und Skulpturen. Viele Facetten von Kunst werden in „Die Tochter des Bildhauers“ abgedeckt, das von Tove Jansson geschrieben wurde. Wer die Mumins, die Fabelwesen aus dem tiefen Finnland kennt, ist mit der Schriftstellerin vertraut. Tove Jansson hat nicht nur diese wunderbaren trollartigen Wesen erfunden, sondern auch andere Werke geschrieben. In „Die Tochter des Bildhauers“ gibt sie Einblicke in ihre eigene Kindheit, die sich zwischen skandinavischer Natur und dem Atelier ihrer Eltern abgespielt hat. Ich habe es geliebt in die Episoden ihrer Kindheit abzutauchen. Ob Pilze sammeln im tiefen Wald, Angeln auf der Schäreninsel oder kunstvollen Pausen in der elterlichen Wohnung – die Kindheit von Tove Jansson schenkt mir Geborgenheit und ermutigt mich weiterhin eigenwillig und frei zu bleiben. Seiten voller Wind, Farben und Skulpturen.

Die Entdeckung der Langsamkeit 
Von Sten Nadolny 

„Die Entdeckung der Langsamkeit“ von Sten Nadolny ist der Roman, der in meiner Jugend wahrscheinlich den größten Einfluss auf mich hatte. Damals habe ich das Buch dank der Empfehlung meines Vaters gelesen und die Lektüre als eine Art Wendepunkt in meinem Leben wahrgenommen. Der Seefahrerroman hat mir das vor Augen geführt, das mir selber zu diesem Zeitpunkt gefehlt hat: Ein eigener Lebensrhythmus.
Sich an die Geschwindigkeit anderer anzupassen, versuchen mitzuhalten und sich selbst zu sehr unter Druck zu setzen, hat mir in dem Übergang von meiner Jugend zur jungen Frau Probleme bereitet. Dieser Roman und die Gespräch mit meinen Eltern über den Inhalt haben es mir ermöglicht, meine eigene Geschwindigkeit zu finden, aufzuhören mich zu vergleichen und den Mut dafür aufzubringen, so schnell oder langsam zu handeln, wie es für mich richtig ist. 2013 haben ich den Roman das erste Mal auf meinem Blog vorgestellt und auch jetzt, sieben Jahre später, denke ich noch oft an ihn zurück. Damals habe ich in der Einleitung meines Artikels über den Protagonist des Romans geschrieben: „John kann nicht mehrere Ereignisse gleichzeitig beobachten und keine schnellen Bewegungen wahrnehmen. Erregt ein Ereignis oder eine Person sein Interesse, konzentriert sich sein Gehirn auf kleine Details und stetige, langsame Veränderungen. Durch viele Beobachtungen, ein gutes Gedächtnis, Stetigkeit, Zielstrebigkeit, Ausdauer und Willensstärke schafft John es die große Sorgfalt seines Gehirns zu nutzen und in großes Wissen umzuwandeln. Er entwickelt seine eigene, ganz persönliche Geschwindigkeit.“
Das Buch hat mich gelehrt auf mein Bauchgefühl und meine Bedürfnisse zu hören und die vielen Stimmen von außen auszublenden.

Die Party bei den Jacks 
Von Thomas Wolfe

Mit Thomas Wolfe nähern wir uns einem Genre, das ich Tag ein, Tag aus lesen könnte. Gesellschaftsromane, Portraits von glorreichen New Yorkern, sind für mich einer der schönsten Zeitvertreibe. Eingekuschelt ins Bett fühle ich mich dann glamourös und mondän, wenn ich in die Welt der High Society abtauchen kann. Es geht um Debütantinnen, heimliche Geliebte, exzentrische Gastgeber und Zyniker, die gerne über die Strenge schlagen und das eben am liebsten bei den Jacks.
Thomas Wolfe bröselt in seinem Roman die Konventionen dieser schillernden Gesellschaft auf und blickt hinter ihre Kulissen. „Die Party bei den Jacks“ wurde Jahre nach seinem Tot gefunden und zeigt, was für ein großer Schriftsteller er war. Thomas Wolfe schreibt detailliert, widmet sich nicht nur den Charakteren, sondern auch ihrer Kleidung und ihrem Einrichtungsstil und malt mit seinen Worten ein allumfassendes Portrait. In seinem wiederentdeckten Werk geht es aber nicht nur um die brillierenden Seiten der High Society New Yorks in den 30er-Jahren, sondern auch um ihren Absturz, ihre dunklen Geheimnisse und Sehnsüchte. Ein falthaftes Buch!

Das Herz ist ein einsamer Jäger 
Von Carson McCullers 

Ich verehre Carson McCullers und habe jedes Werk von ihr gelesen. Nicht nur, weil Truman Capote einmal schrieb „Am liebsten Carson McCullers“, sondern weil sie tatsächlich zu den Autorinnen gehört, die mich am meisten begeistert haben.  Wenn ich ein Buch von ihr empfehlen müsste, obwohl ich wirklich alle empfehlen kann, würde ich euch „Das Herz ist ein einsamer Jäger“ ans Herz legen. Der Titel des Romans, das gebe ich zu, klingt kitschig und etwas zu pathetisch, aber keine Angst – das Buch ist ehrlich, aufrichtig und tief empfunden.
1940 stand der Roman lange weltweit auf der Bestsellerliste und hat viel Aufmerksamkeit geschenkt bekommen und das absolut berechtigt. „Das Herz ist ein einsamer Jäger“ erzählt die Geschichte des Taubstummen John Singer, der in der 30er-Jahren im Bundesstatt Georgia lebt. Obwohl das Buch ein tragisches Ende nimmt, ist die Lebensgeschichte des Protagonisten erbaulich zu lesen. Warum? Vielleicht weil sie authentisch ist und John Singer den Menschen, die ihm in seinem Leben begegnen, Trost und Hoffnung spendet, obwohl er selber, durch seine körperliche Behinderung, gefangen scheint.
Die Sprache von Carson McCullers ist einfühlsam und es scheint als würde ihre Worte die eigene schwere Biografie aufgreifen. Ein Stück Weltliteratur, das zahlreiche unterhaltsame Elemente hat.

Sommerdiebe 
Von Truman Capote

Mein Lieblingsautor ganz zum Ende. Das Gesamtwerk von Truman Capote steht stolz in meinem Bücherregal und hat, wie alle meine Lieblingsbücher, den besten Platz in meinem Wohnzimmer eingenommen. Truman Capote ist bekannt für „Frühstück bei Tiffany“, seine bissigen Kurzgeschichten und seinen Thriller „Kaltblütig“, der das Genre „New Journalism“ auf den Weg gebracht hat. Etwas weniger bekannt ist sein erstes Werk „Sommerdiebe“, das er als Junge geschrieben hat und das erst 2005 gefunden und veröffentlich wurde. Ja, Truman Capote gehörte zu den Ausnahmetalenten, die bereits als Kind großartig geschrieben haben. „Sommerdiebe“ schildert einen heißen Sommer in New York City in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg. Wie so oft bei Truman Capote ist auch diese, seine erste Protagonistin, eine wilde, neugierige junge Frau mit grünen Augen und roten Haaren, die sich in den oberen Kreisen der New Yorker Gesellschaft bewegt. Der Schauplatz, die Upper East Side, wird zum Spielplatz von Grady und ihren Freunden, die zwischen dem ersten Joint und kühlen Champagner auf dem besten Weg sind in die Fußstapfen ihrer Eltern zu treten. Ein schöner Roman über die Suche nach dem eigenen Platz in der Gesellschaft und ein lebendiges Porträt über einen Sommer in einer Metropole.

Redaktioneller Beitrag

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4 Comments

  • Jeanne Champion says: März 20, 2020 at 10:50 pm

    Liebe Flora,
    danke, dass du diese Buchempfehlungen geteilt hast! Was könnte in diesen Zeiten schöner sein, als es sich mit spannender Literatur zu Hause gemütlich zu machen. Ich habe gerade „Call me by your name“ von André Aciman zu Ende gelesen, vielleicht ein Buchtipp für dich? Schön, auch immer wieder deine Videos zu schauen!
    Liebe Grüße und das obligatorische, aber ernst gemeinte bleib gesund!
    Jeanne

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    • Flora says: März 24, 2020 at 2:15 pm

      Liebe Jeanne,

      ich freue mich immer so sehr über deine Kommentare – vielen Dank!
      „Call me by your name“ habe ich noch nicht gelesen und mir direkt notiert, nachdem ich deine Nachricht gelesen hatte. Ich freue mich auf diese Lektüre.

      Stay safe und viele Grüße
      Flora

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  • Carina says: März 23, 2020 at 2:32 pm

    Liebe Flora,
    „Vom Ende der Einsamkeit“ lege ich dir ganz, ganz nah ans Herz! Es ist wundervoll und setzt ich sehr für „Das Herz ist ein einsamer Jäger“ ein 🙂
    Und auch „Oona und Salinger“ von Beigbeder!
    Ich teile deinen literarischen Geschmack sehr, für Capote würde ich täglich in die Bresche springen.
    Herzliche Grüße!

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    • Flora says: März 24, 2020 at 2:17 pm

      Liebe Carina,

      danke, dass du dir die Zeit genommen hast, um den Beitrag zu lesen. „Oona und Salinger“ habe ich vor einigen Jahren gelesen und ich habe es sehr geliebt. „Vom Ende der Einsamkeit“ steht schon eine Weile ungelesen in meinem Regal, aber jetzt habe ich wohl keine Ausrede mehr, um es noch länger liegen zu lassen. Ich freue mich auf das Buch!

      Viele Grüße <3

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