Leben, Literatur 0

Der Sommer im Jahr 1Q84

Tengo und Aomame waren es, die mich in die Welt von Murakamis 1Q84 entführt haben. In ihrer Welt habe ich diesen Sommer besonders viel Zeit verbracht und ich habe jede Minute davon genossen. An diesem Wochenende habe ich die letzte Seite der schönsten Liebesgeschichte gelesen, in der zwei Monde am Himmel stehen. Mein Vater hat mir vor einigen Jahren aus Murakamis Werken vorgelesen und schon damals keimte in mir die Lust auf den japanischen Autor selber zu entdecken. Seine Sprache ist einfach, seine Fantasie grenzenlos.
Während eines Praktikums in einem Verlag habe ich einst die Rezensionen und Besprechungen zu seinen Werken gesichtet, sortiert und an seine Übersetzerin geschickt, die uns Deutschen die literarischen Meisterwerke aus Japan zugänglich macht. Das waren meine ersten Berührungspunkte mit Haruki Murakami und in diesem Sommer sind aus diesen ersten Berührungspunkten große Gefühlswelten geworden, denn die Geschichte der drei Bücher, die alle unter dem Titel „1Q84“ erschienen sind, hat mich tief berührt.

„Wo Licht ist, muss es auch Schatten geben, und wo Schatten ist, gibt es Licht. Es gibt keinen Schatten ohne Licht und kein Licht ohne Schatten. C.G Jung beschreibt dies in einem seiner Werke: Unser Schatten ist so böse, wie wir gut sind…Je verzweifelter wir uns bemühen, gut und wunderbar und vollkommen zu werden, desto stärker entwickelt der Schatten den festen Willen, dunkel und böse und zerstörerisch zu sein…Streben wir also über das Maß unserer Fähigkeiten hinaus nach Vollkommenheit, steigt der Schatten in die Hölle hinab und wird zum Teufel. Denn nach den Prinzipien der Natur und der Wahrheit ist es ebenso frevelhaft, sich über sich selbst zu erheben, wie sich herabzusetzen.“

Eine fantastische Liebesgeschichte 

Den Inhalt von „1Q84“ zusammenzufassen, würde an dieser Stelle keinen Sinn machen. Dafür ist die Handlung viel zu komplex. Murakami, das sei gesagt, schafft in seinem Werk eine Parallelwelt, in der andere Mächte herrschen,zwei Monde am Himmel leuchten und die uns lehrt, dass nicht alles so ist, wie es scheint. Die Protagonisten Aomame und Tengo gehen zusammen in eine Grundschule, halten sich in nur einem Moment an den Händen und gehen in dieser kurzen Begegnung eine Verbindung miteinander ein, deren Tiefe sie erst Jahrzehnte später begreifen. Auf über 1500 Seiten beschreibt Murakami jedes Detail dieser neuen Welt, in die beide Figuren eintauchen. Seine Art zu schreiben entfaltet sich für den Leser wie eine klassische Komposition – feinfühlig, dramatisch, spannend und herzzerreißend schön. Das Jahr „1Q84“ scheint sich um die Liebenden herum zu entwickeln, sie durch Prüfungen und Weggabelungen an die richtigen Stellen ihrer Biografie zu führen. Angetrieben werden Aomame und Tengo, zuerst unbewusst, dann bewusst von der ehrlichen und aufrichtigen Liebe zueinander.

„Aomame erkannte, dass darin der Sinn ihres Weiterlebens lag. Die Hoffnung ist der Brennstoff und Lebenszweck des Menschen. Ohne Hoffnung kann ein Mensch nicht leben. Aber es war wie mit einer Münze. Ob Kopf oder Zahl, das wusste man erst, wenn man sie geworfen hatte. Die Angst drückte ihr das Herz zusammen. So sehr, dass sämtliche Knochen in ihrem Leib krachten.“

„In diesem Licht erkannte Tengo einmal mehr, wie sehr die Regung des menschlichen Herzens die Zeit in etwas Relatives verwandelt.“

Obwohl Murakamis Roman etwas Unwirkliches erschafft, ist das Thema des Romans real. Murakamis Botschaften sind weise, erfüllt von Zärtlichkeit und Feingefühl. Seine Art von Romantik ist zeitweise skurril und hat mich gerade deswegen so begeistert. Er beschreibt alle Figuren, die in der Handlung auftauchen, mit liebevollen Worten und das auch bei der Beschreibung abtrünniger Wesen. Sie alle sind es wert angesehen und erfasst zu werden. Es ist der Blick für sein Gegenüber, der mich so gerührt hat.

„Als die Stirn der Vizerektorin sich umwölkte, erschienen winzige Fältchen in ihren Augenwinkeln. Nur Frauen in mittlerem Alter, die sich lange in Selbstdisziplin geübt haben, vermögen diese klugen, zauberhaften und nuancenreichen Fältchen hervorzubringen.“

Die Wochen, die ich in Murakamis Parallelwelt verbracht habe, haben mich vereinnahmt, so wie es Literatur nur selten schafft und haben nachhaltig Wirkung hinterlassen. Während der Lektüre habe ich mich immer wieder dabei ertappt, wie ich das Buch kurz zur Seite gelegt und über die neu gewonnenen Erkenntnisse nachgedacht habe, wie ich selber heimlich hoch zum Himmel geblickt habe, um unseren einen Mond zu betrachten oder wie ich mir mehr Zeit für mein Abendessen genommen habe, ganz so, wie Tengo es tut. Eine Leseerfahrung, die ich mit euch teilen wollte.

Redaktioneller Beitrag

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